Beitrag von Stadtpfarrer Dr. Thomas Vogl in der Katholischen Sonntagszeitung

Gemischte Gefühle im Herbst

Vom Fallen, Vergehen und Sterben und einer Hoffnung auf eine sanfte Hand

Es ist Herbstanfang. So sagt es der Kalender, so sehe, rieche, spüre ich es selbst. Die Tage werden merklich kürzer, morgens und abends ist es kühl. Die Blätter an den Bäumen färben sich bunt und golden oder fallen nach und nach. Die letzten Früchte auf Feldern, Weinbergen, Wiesen und in den Gärten werden geerntet. Erntedank wird gefeiert. Das milde Licht macht die Welt weicher und in den Bergen kann es beste Fernsicht auf überwältigende Panoramen geben. Es ist noch einmal Fülle und Vielfalt da. So mag ich diese Jahreszeit. Und doch mischen sich auch Melancholie und Wehmut in diese Tage und Wochen.

Der Sommer und die damit verbundene Leichtigkeit des Lebens ist vorbei. Der Herbst ist eben nicht nur Ernte und Fülle, sondern Vergehen und Sterben. Es geht in die dunkle Zeit und in die Kälte des Winters. Manchen setzt das psychisch zu. Der sogenannte „Herbstblues“ macht Gemüt und Gedanken schwer. Medizinisch hängt das mit dem Lichtmangel zusammen. Das Glückshormon Serotonin wird zu wenig produziert. Daher wird geraten, ganz bewusst Glück in sich selbst zu erzeugen.

Wider den „Herbstblues“

Vielleicht hilft dabei ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint – darum auch die Bitte: Lesen Sie es öfter hintereinander, lassen Sie sich ruhig Zeit damit. Das hat nämlich auch etwas von „Herbst“.

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“

(Rainer Maria Rilke, „Herbst“, 1902, in: Die Gedichte, 3. Auflage, 1987, S. 344).

Alles fällt …

Der Herbst macht eine „verneinende Gebärde“ im Fallen der Blätter. Da ist kein Wachsen, Blühen und Reifen mehr. Das Ja zum Leben scheint verstummt. Das gilt für die „schwere Erde“, die in die Einsamkeit fällt, und das betrifft jeden Menschen. Alle fallen. Die Hand ist ein Bild für alles, was der Mensch kann, aber sein „Handeln“ ist eben hinfällig und vergänglich. Ernüchternd sagt der Dichter: Das Fallen, das Sterben – „es ist in allen“.

Stilles Glück

Bis jetzt ist da keine Spur gegen den „Herbstblues“ zu finden, ganz im Gegenteil. Aber es folgt dieses „Und doch …“ Daraus spricht eine starke Gewissheit. Da ist „Einer“. Er ist nicht benannt, aber er bekommt Kontur durch das, was er tut: Er hält das Fallen unendlich sanft in seinen Händen. Das braucht keine weiteren Worte, sondern einfach das Vertrauen, dass Er mich in meinem Fallen hält, unendlich sanft. Er verhindert das Fallen nicht, aber er ist da. In seine Hände kann ich mich getrost fallenlassen. Könnte das nicht ein wenig Glück in mir selbst erzeugen? Denn mit dieser Zusage kann der Herbst ruhig kommen, sei es in diesem Jahr oder einmal mit den Jahren meines Lebens.

Text: Dekan Stadtpfarrer Dr. Thomas Vogl
Bild: KSZ, Marvin Siefke