Der Brauch des Kreuzverhüllens lässt uns den verborgenen Erlöser neu sehen lernen
An diesem Wochenende ist es wieder soweit. In den Kirchen werden die Kreuze mit violetten Tüchern verhüllt. Es ist ein
alter Brauch, der spätestens seit dem Konzil von Trient (1547 bis 1563) im Messbuch vorgeschrieben und nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils als Empfehlung beibehalten wurde. In der Frühzeit der Kreuzesdarstellungen wurde der Akzent auf Christus als Sieger über den Tod gelegt. Als der erhöhte Christus mit
einer goldenen Krone ist das Kreuz sein Thron. Sein Leiden rückte dabei in den Hintergrund. Oder die Kreuze waren über und über mit Edelsteinen verziert und wurden als Triumphkreuze gezeigt. So könnte die Tradition entstanden sein, mit
der Verhüllung dieser Kreuze in der Passionszeit und vor allem der Karwoche den Blick auf den leidenden Christus bewusster zu machen.
Den Erlöser entdecken
Ziel des Verhüllens ist die feierliche Kreuzverehrung in der Karfreitagsliturgie. Das verhüllte Kreuz wird in die Mitte der versammelten Gemeinde getragen und in drei Schritten nach und nach enthüllt. Es wird dann jeweils mit dem alten
Ruf erhoben: „Ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit. Venite adoremus – Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen. Kommt, lasset uns anbe- ten.“ Christus am Kreuz soll neu gesehen und tiefer verstanden werden. Er ist wirklich der Erlöser.
Durch Verhüllen erkennen
Sicherlich kommt ihnen das Künstlerehepaar Christo und Jean-Claude in den Sinn. Seit den 1960er Jahren haben sie mit oft spektakulären Verhüllungen nicht nur auf sich selbst und ihre Kunst, sondern eben auf die jeweiligen Objekte neu aufmerksam gemacht. So auch in Deutschland mit dem Verhüllen des Berliner Reichstags. Das Verhüllte wirkt ganz anders, beflügelt die Fantasie. Dennoch bleibt das Verborgene gegenwärtig. Diese geheimnisvolle Präsenz macht nachdenklich und stellt Fragen: Was bedeutet mir das, was sonst immer so selbstverständlich sichtbar ist? Würde mir etwas fehlen, wenn es tatsächlich nicht mehr da wäre?
Leben – im Tod verborgen
Ist nicht sogar das Kreuz selbst eine Verhüllung? Dass im Kreuz Heil, Leben und Hoffnung ist, das ist ja nicht auf den ersten Blick zu erkennen und zu verstehen. Die ersten Christen wollten zunächst nicht mit dem grausamen Marterwerkzeug der Römer ihren Glauben an Christus, den Auferstandenen, zeigen. Erst nach und nach ist es ja zum Markenzeichen des christlichen Glaubens an das Leben geworden. Das Kreuz ver- und enthüllt zugleich, dass im Tod das
Leben ist. Das ist wohl das Wichtigste an diesem alten Brauch, dass der Blick für das Leid in der Welt, für die Leidenden überall und neben meiner Tür geschärft wird. Der Misereor-Sonntag wurde deswegen auch bewusst auf diesen fünften Fastensonntag gelegt. In gleicher Weise darf und soll ich mein eigenes Leid, meine Verwundungen und Enttäuschungen anschauen. Da ist manches im Verborgenen, weil ich es selbst nicht annehmen kann, weil ich mich dafür schäme oder niemanden habe, dem ich es anvertrauen möchte oder könnte. Es zu enthüllen, bedeutet nicht, alles allen präsentieren, sondern es in dieses neue Schauen und Erkennen des Erlösers mit hineinzunehmen und in Leben zu verwandeln.
Nicht „Alles wird gut!“, nichts muss ich vorschnell mit Ostern überblenden, sondern wie bei der Kreuzverehrung kann ich Schritt für Schritt dem auf die Spur kommen, was Paulus so sagt: „Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: … wir werden alle verwandelt werden … . Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“
(1Kor 15,51.54–55).
Text/Dekan Thomas Vogl